Prof. Dr. Theodor Hellbrügge
In memoriam
*23. 10. 1919 † 21. 01. 2014
Professor Hellbrügge war Kinderarzt aus Berufung. Sein Elternhaus und sechs Geschwister haben bereits früh sein Interesse am ärztlichen Beruf und am Geheimnis der menschlichen Entwicklung begründet. Er studierte Medizin in Münster und München. Während des 2. Weltkriegs, an dem er als Feldunterarzt teilnahm, weckte Prof. Nagel seine wissenschaftliche Neugier. Dieser konnte er dann als Assistenzarzt bei Prof. Wiskott an der Kinderklinik der Ludwig Maximilian Universität zu München nachgehen.
Ein Schlüsselerlebnis war für Prof. Hellbrügge die Begegnung mit Kindern, die aus der vom national-sozialistischen Rassenwahn geschaffenen Organisation „Lebensborn" stammten. Gemeinsam mit der Psychologin Rosemarie Brendel spürte er den Biographien dieser inzwischen jungen Erwachsenen nach und kam zu dem Schluss, dass ein Kind zur Erschließung seiner Entwicklungspotentiale der vorbehaltlosen individuellen menschlichen Zuwendung und vielfältiger sozialer Beziehungen bedarf.
An der Seite seiner Frau, die er bereits in früher Jugend kennen gelernt hatte, und in seiner eigenen Familie, auf die er stolz war, fand Prof. Hellbrügge diese Erkenntnis immer wieder bestätigt. Mit der ihm bis in sein hohes Alter eigenen Überzeugungsfähigkeit, aber auch mit Beharrlichkeit hat er dauerhafte Strukturen und Einrichtungen ins Leben gerufen, die sich hilfsbedürftigen Familien und Kindern zuwenden.
Prof. Hellbrügge besaß ein untrügliches Gespür für Menschen und Ideen und konnte mit seinen Visionen andere begeistern. So wurde er zum Begründer der Sozialpädiatrie in Deutschland und war von 1977 bis 1992 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie. Von 1976 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1990 hatte er in München den ersten und einzigen Lehrstuhl für Sozialpädiatrie in Deutschland inne.
Prof. Hellbrügge verband auf einzigartige Weise wissenschaftlichen Anspruch und praktische Umsetzung seiner Erkenntnisse. Auf seine Initiative gehen die gesetzlich verankerten Vorsorgeuntersuchungen für Kinder zurück. Zahlreiche Methoden der Frühdiagnostik und Frühtherapie bei Kleinkindern hat er gefördert und bekannt gemacht. Die Früherkennung von Hörstörungen war ihm ein besonderes Anliegen.
Nicht zuletzt gestaltete sich seine langjährige, kongeniale Zusammenarbeit mit Prof. Vaclav Vojta besonders erfolgreich. Prof. Hellbrügge hatte Prof. Vojta 1975 aus Köln, wohin dieser 1968 aus Prag emigriert war, an „sein" Kinderzentrum (des Bezirks Oberbayern) nach München geholt. Als sein Stellvertreter war es Prof Vojta bis zu seinem Tod im Jahr 2000 möglich, die Anwendung und Verbreitung der Diagnostik und Therapie von Entwicklungs- und Bewegungsstörungen bei Säuglingen, Kindern und Erwachsenen weiterzuentwickeln sowie national und international zu verbreiten.
Prof. Hellbrügge gehörte zu den frühen Befürwortern der gemeinsamen Erziehung behinderter und nicht behinderter Kinder in Kindergärten und Schulen. Mit den von ihm gegründeten und Jahrzehnte lang geleiteten Einrichtungen (Kinderzentrum München, Akademie für Entwicklungsrehabilitation, Aktion Sonnenschein e.V.) hat er dafür hochwirksame Modellstrukturen geschaffen, die weltweit Beachtung fanden und seine Grundüberzeugungen international verbreiteten.
Zur Etablierung der Sozialpädiatrie haben die von Prof. Hellbrügge ins Leben gerufenen Seminarkongresse in Brixen / Südtirol erheblich beigetragen. Damit hat er ein - seiner Zeit völlig neues und zukunftsweisendes - wissenschaftliches Forum geschaffen, das überaus fruchtbare interdisziplinäre Begegnungen von Ärzten und Therapeuten ermöglicht.
Prof. Hellbrügge war von kaum zu übertreffender Großzügigkeit, wenn es darum ging, das Engagement für das „mehrfachbehinderte Kind", sei es in Deutschland oder nach Ende des „Kalten Krieges" besonders in Osteuropa zu unterstützen. Mit seiner Begeisterungsfähigkeit verstand er es, seine Mitarbeiter und Schüler anzuspornen und zu fördern, aber auch sich entfalten zu lassen.
Die außerordentlichen Verdienste von Prof. Hellbrügge um die kleinen und großen Kinder, um die Kinderheilkunde und um sozialpolitischen Fortschritt sind durch zahlreiche hohe Auszeichnungen und mehr als 20 Ehrendoktorwürden von Universitäten in aller Welt gewürdigt worden. Deutschland hat mit Prof. Hellbrügge einen der großen Kinderärzte des 20. Jahrhunderts verloren.
Wir, die Internationale Vojta Gesellschaft e. V., gedenken seiner mit besonders großer Dankbarkeit.
Dr. Friedemann Schulze (Erfurt) Wolfram Müller (Siegen)